Für Mütter, die nicht loslassen können

Die Therapien lagen mal wieder so, daß auf unserem Spaziergang durch blühende Wiesen und angrenzende Wälder nur wir Frauen und Mütter unterwegs waren. Da kam es wie von selbst, daß jede über ihre Beziehung zu ihrer Tochter sprach. Und so ungefähr hörte es sich dann an, als jede von uns
mit dem Rücken an einen dicken Baum saß.


Regenverhangene Tage, wie dieser einer ist verleitet mich zu Tagträumen und Erinnerungen. Auch Plätze, an denen ich mich gerne aufhalte, wiegen mich oftmals in Wachträume. Es sind nur Augenblicke, denn meine Unruhe hat mich bis jetzt immer wieder weiter getrieben und ich fand immer nur das reale Leben erlebenswert -- Eine Zwecklüge oder besser gesagt Ausrede, denn mein Unterbewußtsein spülte mir ganz etwas anderes in mir hoch und das hat mein Realbewußtsein völlig überwältigt. In Sekunden war alles anders. Eine Erinnerung, die immer wieder wach wird, ist, daß ich mit dem Rücken fest angelehnt an unserem großen alten Ahornbaum sitze und ich mich dem Moment ergebe. Ich erlebe ganz natürliche Klänge, fein märchenhaft, es handelt sich um Insekten, die sich zuhauf über die süßen Blütenbüschel hermachen. Ihr Summen trägt mich immer weiter weg, gleitet ab in die Unendlichkeiten. Ich habe das Gefühl, ich wachse in die Erde.
Es wird mir bewußt, daß ich meinen Körper wie ich ihn sonst kannte, mit Zipperlein hier und Schmerz da, vollkommen vergaß und ich eine Reise eine Traumreise, in mein Inneres antrat. Auf einer nie gekannten warmen Welle sehr leicht und fein trug mein Atem mich durch mich hindurch, nur begleitet von meinen Gedanken, eigentlich meiner Seele. Wir irrten einige Sekunden herum und fanden dann den Ausweg durch meine Wurzeln zu Mutter Erde in ihr bis jetzt für mich verborgenes Heiligtum. Ich nehme an, dieses Geschehen ist nicht zu jeder Zeit für mich zudurchleben, sondern nur dann, wenn ich bereit bin alle fließenden Ströme laufen zu lassen und mich ihrer Führung überlasse.
Die Mutter Erde, die ich erlebte als ich durch alle meine Wurzeln hindurchgestiegen bin und gewagt habe, ganz in ihr Reich einzutreten war stumm, aber in ihren Handlungen und Hinweisen sehr bestimmend und ermunternd.
Ich überließ mich trotzdem ihrer Führung.
Fragen, die ich mir noch nie gestellt hatte, stürzten auf mich ein, drängten sich in meine Sinne. Sie erschreckten mich, rüttelten mich auf, zeigten mir, wie viele Möglichkeiten ich verspielt habe und wie viele Wege ich noch gehen kann, bis an den Heiligen Baum der Weisheit zu gelangen. Wenn überhaupt.
Wie eine unüberwindliche Mauer türmten sich meine Gedanken, an die Tage mit meiner Tochter Anne, die wir gemeinsam in Worpswede verbrachten, vor mir auf.
Dieses Worpsweder Wochenende für uns zwei hatte ich meiner Tochter zum Abschluß ihrer Diplomarbeit geschenkt. Mein Wunschgedanke für uns war, daß wir uns nahe sind und sie sich auf den Spuren von Paula Modersohn Becker wohlfühlen mag. Sie aber sah alles ganz anders und ich ahnte von alledem nichts.
Mir fiel nur auf, daß ihr die sonstige Heiterkeit fehlte und sich die Gelöstheit nicht einstellen wollte. Die Spannungen, die sich daraus ergaben, konnte ich mir nicht erklären, fragte aber auch nicht. Schade! Ich bemerkte, daß sie keine Wünsche äußerte und sich auf meine Organisationsvorschläge verließ, die ich auf
dieser Reise nicht hatte, denn ich wollte ihr die Initiative überlassen. Sie wußte lange von dieser Reise und ich nahm an, sie hätte eine Fülle von Wünschen.
Fehlgedacht! Leider wurde ich erst sehr spät wissend um ihre Gefühle. Dadurch vergaben wir viel Zeit und redeten oftmals aneinander vorbei. Sie konnte zu diesem Zeitpunkt über ihre Gefühle nicht sprechen und ich wagte nicht zu fragen.
Sie nahm an, daß ich ihr die Fahrt geschenkt hatte, weil ich dorthin wollte. Sie sah es als eine Nötigung an und damit war uns jede gemeinsame Freude versagt.
Trügerisch wie das Moor waren unsere Gedanken verkrampft wie unsere Bewegungen. Um uns blühte es wunderschön und sie hegte graue Gedanken.
In diesem schönen Monat Mai vollendete sie ihr 3o. Lebensjahr und ich werde in diesem Jahr noch meinen 6o. begehen. Plötzlich drängten sich Erlebnisse auf, die wir beide in den Schulferien, auf Reisen und auf Studienbesuchen hatten. Das Herz wurde mir schwer! Sollten wir das alles verlieren. Oder schon verloren
haben ? Wie schwer ist es für mich, loszulassen. Im Kopf längst begriffen, mit dem Herzen immer im Hader. - Wie schwer!-- Aber wie schwer muß es erst für sie sein? Wann werde ich ihr das Gefühl der gleichberechtigten Frau neben mir vermitteln können. Wie kann ich es werden lassen ohne wieder zu verletzen?
Immer trägt sie den Stempel der Tochter und wehrt sich vehement um diese unsichtbare Fesseln los zu werden. Leider festigt sie die Momente nicht in denen sie mir gegenüber stark ist. Sie ist so wissend und wuchert trotzdem nicht mit diesen Pfunden. Ich müßte ihr vielleicht öfter sagen, wie ich sie bewundere, daß ich sie liebe so wie sie ist, so kompromißlos liebend, so ungestüm fordernd und zugleich so verletzlich. Ich versuche mich in ihre Seelenkämpfe einzufühlen, aber sie läßt mir wenig Möglichkeiten. Eine neue Unsicherheit, die ich früher bei mir nicht kannte, hängt jetzt knisternd zwischen uns und verursacht immer mehr Unbedachtsamkeiten. Stelle ich mich zurück und gebe meine Persönlichkeit auf, geht das nicht gut. Wenn ich mich richtig mit ihr fetze, meinen Standpunkt vertrete, dann merke ich, daß sie fast ähnliche Gedanken und Gefühle hat. Trotzdem wir verletzen uns immer noch, weil wir nicht aussprechen, was uns
bewegt. Mein Harmoniebedürfnis ist unpassend, ich muß hin und wieder Widerstand leisten und das bald, sonst bleibt uns kein Weg mehr um uns weiterhin Liebe und Achtung zu erweisen.
Alles das bewegte mich, als mich Mutter Erde wieder ans Licht führte. Nun befand ich mich schon ganz oben in der Krone des Baumes. Immer noch begleitet sie mich und ich fühle mich wohl in ihrer Nähe, fühle mich unantastbar, richtig abgeschirmt. Ich nehme alles auf, was sich meiner Seele bietet, sie läßt mich begreifen, daß die Liebe das seelische Maß aller Dinge ist, die der Mensch empfangen und geben kann.
Still verharrend im höchsten Wipfel des Baumes im überstrahlenden Licht sah ich mich - - wie ein Schatten zog ich an mir vorüber. Ruhig sanft lächelnd weißhaarig und voller Energie, biegsam wie eine junge Gerte aber widerstandsfähig. Empfindsam wie eine Mimose und romantisch wie Eichendorff und Löns zusammen. Lichthell und greifbar nahe sah ich alles vor mir. Ich fühlte den Zauber körperliche Liebe,

phantastische Berührungen
kindliche Liebe
mütterliche Liebe.

Nie war mir so wohl wie in diesem Augenblick bei dieser Entdeckung. Sollte das die Vorausbestimmung für meine nächsten Stunden oder Jahre sein? Heißt es vielleicht auch, daß unsere Worpsweder Reise ihre Wirkung zeigte. Nur anders als vor Zeiten gehofft aber wirksam.
Pausen bringen Nachdenken
Abstände bringen Nähe
Widerstand bringt Achtung
Klartext bringt Verständnis.

Gedanken dieser Art erschütterten mich. Zeigten sie doch Wege, die es möglich machen, jeden Tag ein kleines bißchen mehr loslassen zu können. Nur ein Lichttraum oder ist es machbar?
Mit dem Stein, den mir Mutter Erde in die Hand schob, glasklar, kühl, voller Licht und Kraft durchlebte ich unbeschadet die Rückreise zu mir.
Somit schloß sich mein Traumkreis und es regnet noch immer.

Ab da brachte auch ich meine Befindlichkeiten ein, setzte meinerseits Grenzen. Bot ihr Reibungsflächen, damit sie sich beweisen konnte und auch ich nicht immer als die Schwache Starke aus dem Rennen ging. Ich suchte und fand treffende Argumente und bessere Formulierungen. Dabei half mir die Vorstellung,
daß ich nicht zu meiner Tochter, sondern zu meiner Freundin spreche, der ich etwas wichtiges anvertrauen möchte. Bis jetzt hält der Versuch.

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