Engelchen

 
Diese Geschichte ist nicht von mir, ich habe sie als Kind geschenkt bekommen

Weihnachten 1944 in Freystadt
Text: Lieselotte Baumgarten, Bilder: Hanni Fierle

Es war einmal ein kleines Engelchen, das war gerade erst in den Himmel gekommen und schrecklich neugierig. Alles wollte es wissen und sehen und konnte aus dem Staunen überhaupt nicht herauskommen. Da hörte es einmal, es war kurz vor Weihnachten, wie der liebe Gott zum Knecht Ruprecht sagte, er solle schon mal hinunter auf die Erde gehen und sehen, ob die Kinder artig seien und die Weihnachtsgaben, die sie sich gewünscht hatten, auch verdienten. Knecht Ruprecht versprach, alle artigen Kinder aufzuschreiben und sie nachher dem Weihnachtsmann zu melden, damit auch keines vergessen würde und leer ausginge.

Er machte sich also fertig für die große Reise auf die Erde, zog die pelzgefütterten Stiefel an, zog die Pelzmütze bis tief über die Ohren und ging zum Petrus, damit er ihm das große Himmelstor aufschließen solle. Auf diesen Augenblick hatte das Engelchen schon sehnsüchtig gewartet. Die große Himmelstür war ihm schon immer so geheimnisvoll vorgekommen, und es hätte gar zu gern einmal einen Blick hinaus auf die Erde getan. Petrus hielt die Tür aber immer ganz fest verschlossen. Um nun den Augenblick nicht zu versäumen, an dem die Tür aufgehen und den Knecht Ruprecht hinauslassen sollte, stellte sich das Engelchen ganz dicht an die Tür und wollte dann schnell hinunter auf die Erde gucken.
Als nun Petrus mit dem großen Schlüsselbund kam und die Himmelstür aufschließen wollte, sah er gerade im letzten Augenblick noch das Engelchen in der Ecke stehen.
Er hatte gerade Anweisung vom lieben Gott bekommen, aufzupassen, daß keines der kleinen Engelchen zu nahe an die Himmelstür kam, denn es war ja Winter und auf der Erde bitterkalt, so daß sich die Engelchen durch den rauhen Luftzug, der von der Erde heraufkam, gar zu leicht erkältet hätten.
Er schickte das Engelchen also wieder in den Himmel hinein, in die Nähe der Mutter Sonne, zwischen die weichen, warmen Federwolken.
Das Engelchen war ganz traurig, daß es nun nicht hinunter auf die Erde sehen sollte; da es aber sonst artig und folgsam war, tat es, wie ihm Petrus befohlen hatte und lief wieder zwischen die warmen Wolken. Es ließ ihm aber keine Ruhe, daß es die Erde nicht gesehen hatte; und da es wußte, daß sie hinter den Wolken sein mußte, fing es an, ein tiefes tiefes Loch in die Wolken zu bohren.


Plötzlich war es durch die Wolke durch, und als das Engelchen nun durch das Löchlein hindurchschaute, konnte es wirklich auf die Erde hinunter sehen. Als nun die anderen Engelchen merkten, daß man so die Erde von oben anschauen konnte, taten sie es dem kleinen Engelchen alle nach und bohrten alle mit ihren Zeigefingerchen jedes ein Löchlein in die Wolkenwand, durch das sie dann nach Herzenslust auf die Erde schauen konnten. Des Abends nun, wenn es dunkel geworden ist und die Engelchen, genau wie die Kinder auf der Erde, ins Bettchen gehen müssen, dann kann man von der Erde durch die vielen kleinen Löcher das Himmelslicht schimmern sehen und die Leute sagen dann, sieh mal, die Sterne sind da.
Ja, Kinder, da staunt ihr, so sind durch die Neugier eines Engelchens die Sternlein entstanden, die ihr jeden Abend am Himmel sehen könnt.

 

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