Die Uhr

Wie verabredet sitzen wir im Cafe und ich erzähle ihr meine Uhrenstory.

In den Gärten war schon lange Ruhe eingekehrt, nur noch Meisen, Amseln, Eichelhäher und Krähen fliegen an und ab durch den Tann.
Nur selten kann ich auf dem frischen dünn gefallenen Schnee ein paar Wildkaninchenspuren entdecken. Hasen gibt es schon lang keine mehr. Es soll die erste Friedensweihnacht vorbereitet und gefeiert werden. Wir begannen es damit, daß wir alle gut aufbewahrten nicht verbrauchten Kerzenstummel und Wachsreste zusammentrugen. Wir fertigten uns eine Papierröhre mit Hilfe eines Besenstiels an und erbaten uns aus Omas Strickkörbchen einen Baumwollfaden, den wir als Docht gut brauchen konnten. Dann stachen wir einen dünnen Nagel durch den oberen Rand der Papierröhre. In der Mitte des Nagels knoteten wir den Faden fest. Damit er gut fest hielt, beschwerten wir ihn. Danach wurde alles in einen Sandeimer gestellt und die Gießerei ging los. Durch die unterschiedlichen Reste war eine ganz sonderliche Farbgebung entstanden. Unsere Adventskerze war geboren und blieb unsere einzige weihnachtliche Lichtquelle.
Kiefernäste verströmten ihren würzigen Duft in unserem kleinen Häuschen. Aber zum Fest wollten wir doch eine richtige Fichte haben. Wir wußten genau, wo in diesem riesigen Wald die edelsten Bäume standen. Wir wollten uns auf die Räder schwingen und uns den besten sichern.
Aber haltet mal, rief Oma, es ist noch nicht die richtige Zeit, den Weihnachtsbaum zu schlagen. Soll er denn durch Euren Übereifer schon vor dem Fest die Nadeln verlieren? Unsere erstaunten Gesichter warfen nun auch Fragen auf, die meine Großmutter eindeutig klärte, denn sie lebte schon lange im Rhythmus der Natur und unsere ganze Familie war durch sie mit einbezogen. Also fuhren wir erst später, genau gesagt am 12. Dezember, um ihn zu schlagen. Vater baute dann auf einer Sperrholzscheibe eine wunderschöne Krippe auf und befestigte sie im Mittelteil unseres Baumes. Nun wußte ich, warum er gerade diesen Baum gewählt hatte. Er wurde wunderschön. Äpfel aus dem Garten kamen dran, einige Pfefferkuchen und unser altes, immer wieder aufgehobenes Zinn-Lametta, welches schwer von den Zweigen herabhing.
Heiligabend leuchtete der Rest unserer Advendskerze und das übrige Licht kam aus der offenen Klappe des eisernen Ofens. Für uns Kinder eine wildromantische Atmosphäre, sieht man davon ab, daß alles sehr ärmlich war nach diesem verheerenden Krieg. Trotz allem hatten wir Glück, von unserer Großfamilie fehlte keiner, auch die elterlichen Freunde und die Verwandten hatten alles einigermaßen glimpflich überstanden. Die seelischen Qualen sah sowieso niemand und keiner sprach darüber. Wir sangen, lasen uns Märchen und Gedichte vor, träumten von der Zukunft und brachten damit eine zauberhafte Stimmung in unser karges Fest.
Großmutter hatte die beste Überraschung für uns. Sie hatte einen großen Wassergrießpudding gekocht und reichte eingemachtes Obst dazu. Ganz herrlich mundete uns dieses Festmahl. Dann trat Ruhe ein und die stille Nacht brachte auch uns den Schlaf.

Eine Ofenklappe fällt ins Schloß, es riecht nach Wärme und ich rapple mich aus meinem Bett. Es ist noch sehr früh und Großmutter hat schon das Zimmer aufgeräumt, den Frühstückstisch gedeckt und einen Eimer frisches Wasser geholt. Damit beginnt der erste Feiertag und ich schlüpfe, wie schon so oft an solchem Feiertagsmorgen zum Papi ins Bett. Wie eine Schmusekatze schiebe ich mich seitlich unter seine Decke und denke immer, er merkt es nicht und genieße diese stille Duldung. Viele Jahre später wurde mir klar, daß es zu unserem Spiel gehörte. Er war immer schon vor mir wach und genoß wie ich die seltenen Minuten der wohligen Geborgenheit und Nähe. Nach kurzer Zeit wurde es dann überall in den Räumen lebhaft und unsere Gespräche begannen damit, daß ich mir seine Taschenuhr erbat. Einmal im Jahr wollte ich ihre Schönheit erleben, die Zeiger hüpfen sehen und ihr gleichmäßiges Ticken hören. Es war ein immer wieder erregender Augenblick und es geschah leider nicht zum ersten Mal, daß sie mir aus den erregungsfeuchten Kinderhänden rutschte, auf dem Fußboden landete und ihr Leben für Tage ausgelöscht war. Schreck und Starre befielen mich und meine Mutter hatte bittere ermahnende Worte für mich. Papi mußte nun Schock und böse Worte wegtrösten. Es dauerte lange, bis sich die erlösenden Tränen einstellten und wir dann auch irgendwann in den Tag fanden. Viele Jahre sind seit diesen Erlebnissen vergangen.
Vater und Uhr sind nur noch Erinnerungen.
Als ich meinen Kindern die Geschichte von der Uhr und ihrem Großvater erzählte, fragte mein Mann, ein ewiger Bastler, nach der defekten Uhr und ich gab sie ihm bereitwillig. Er verstand es, dieser alten geplagten Uhr wieder Leben einzuhauchen. Welche Freude, als sie wieder ging. Sie bekam ein schönes lila Band und hing nun bei mir am Bücherregal. Ihre Zeit war nun meine Zeit. Ich liebte sie sehr.
Eines Tages kam mein Bruder auf Besuch und er erkannte diese Uhr als Vaters Uhr. Er bestand darauf, daß er sie zu bekommen habe, denn sie gehöre zu Vaters Nachlaß und er möchte diese Uhr als Vermächtnis seinem Sohn geben zum Andenken an seinen Großvater.
Ob sie immer noch brav ihre Dienste tut, kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, meine Kinder erhalten von mir diese Geschichte und werden so von mir an ihren Großvater erinnert. Er hatte auch sie, genau wie mich, liebevoll umsorgt, ihnen die große weite Welt erklärt und sie noch ein gutes Stück auf ihrem Lebensweg begleitet. Nur das zählt.

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