Die Gerüche der Kindheit

In diesem Jahr ist es schon sehr früh kalt geworden. Es ist der 3. November und es fallen die ersten Schneeflocken, die sogar liegen bleiben. Ich war zu Hause und bereitete schon die ersten Teige für die bevorstehende Adventszeit vor. Gute Pfefferkuchenteige müssen lange ruhen, bevor sie gebacken und mit Genuß verzehrt werden können.
Während meiner sorgfältigen Vorbereitungen auf die dann folgende Teigzubereitung wanderten meine Gedanken bis in meine Kinderjahre, in das Vorkriegs-Berlin der 30er Jahre ab. Ich erinnere mich, wie meine Großmutter dieses Backritual einleitete. Alle Tätigkeiten mit ihr haften stark in mir, weil sie immer mit vielen Geschichten und besonderen Erlebnissen verbunden waren.
Eines Morgens weckte sie mich ganz früh, tat sehr überrascht und wichtig und forderte mich auf ganz schnell mit ihr ans Fenster zu kommen, um das herrliche Morgenrot zu erleben, denn ab heute, es war so Ende November, wird im Himmel Pfefferkuchen gebacken, der gerade einen lilarosa Zuckerguß bekommt.
So schnell wie an diesem Morgen war ich wohl nie wieder aus dem Bett und am Fenster. Staunende Begeisterung und letztendlich die gewollte Verführung und Wunschanregung, auch hier zu Hause zu backen, denn nur Großmutter konnte so backen, daß sie die ganze Großfamilie nebst Freunden zum Naschen verführte.
Sie machte mir klar was wir alles brauchten und ließ mich in den Küchenschrank schauen in dem das alles fehlte was sie als nötig aufgezählt hatte. So blieb nur eins, wir mußten einkaufen gehen. Nach einem sehr kurzen Frühstück machten wir uns auf den Weg in die kleinen Läden der großen Stadt. Es wurde ein vergnüglicher Vormittag, der wieder, damit es nicht langweilig wurde, mit allerhand Geschichten, Märchen und Deutungen gespickt war.
In kurzer begreiflicher Form für mich kleines Mädchen erzählte sie mir vom Kleinen Muck, der im Sonnenland mutterseelenallein lebte und sehr arm war, daß seine spätere Herrschaft gerne Feigen aß, wie er sie besorgte, und was dann geschah. Klug war der Kleine!
Meine Großmutter berichtete mir auch, daß wir nun von diesen schönen Früchten, die hier nicht wachsen und reifen können. Große Schiffe fahren übers Meer und bringen uns diese Köstlichkeiten, damit wir sie im Weihnachtskuchen genießen können.
Wir landeten gut gelaunt und voller Spannung in einem Kolonialwarenladen von dem Oma behauptete, dort die besten Zutaten und Gewürze zu bekommen. Wir waren leicht beladen und aus der Tasche drangen Düfte, die sich mit den Omageschichten zu einer unvergeßlichen Wahrnehmung verbanden und jährlich wiederkehrten.
Schwatzend und Schaufensterbetrachtend erreichten wir die Attraktion des Tages.
In einem kleinem Geschäft war der Eingang schon die Pforte zum Märchenland. Wir standen vor dem Knusperhäuschen von Hänsel und Gretel welches mit allen süßen Sachen, die sich ein Kind bloß wünschen konnte, behangen war. Da waren Pfefferkuchen so groß wie ein Backblech mit vielen Mandeln versehen, die sich die Kinder herausbrechen konnten. An einigen Stellen war schon geknuspert worden. Also waren Hänsel und Gretel schon hier gewesen. Holt die Hexe nun auch mich? Aber nein, deine Oma beschützt dich ja, bekam ich zur Antwort. Ganz geheuer war mir dann die Sache doch nicht und ich blieb eisern und knabberte nicht. Knabbern war für mich wie anklopfen und ich wollte nicht zur Hexe. Oma sollte nur ein paar Baumkringel kaufen und dann sollten wir schnell wieder gehen. Schade eigentlich, es roch so verlockend. Märchen bleibt Märchen aber man kann ja nie wissen.
Viele Male steuerte ich diesen Laden noch an, aber niemals ging ich hinein. War nur entzückt wenn jemand die Ladentür öffnete und die Wohlgerüche sich vor mir ausbreiteten und mir langsam in die Nase stiegen. Da konnte ich träumen von fernen Ländern.
Dieselben Rituale spulten sich ab, als ich meine Kinder in das Weihnachtsbacken einbezog. Einmal so ein Naturschauspiel mit solcher Deutung verbunden das haftet für immer.
Tagelang löcherten und fragten mich meine Kinder voll Ungeduld, ob nicht schon ein bißchen wenigstens vom Morgenrot zu sehen wäre. Da meine Beiden Langschläfer waren, nutzte ich diese Situation schamlos aus und sagte: Um das festzustellen, müßtet ihr schon früher aufstehen. Danach geschah folgendes: Zu meinem Erstaunen stand jeden Morgen eines meiner Kinder früher auf, um den Zeitpunkt des Morgenrots und den Beginn des Einteigens nicht zu verpassen. Das zu erreichen, trafen sie mit ihrem Großvater, der als Familienfrühaufsteher galt, ein Abkommen. Er sollte jeden Tag eines der Kinder vor dem Wecken munter machen und mußte Ausschau halten.
Einige Jahre warten meine Kinder auf dieses verheißungsvolle Morgenrot wie auf den Nikolaus und den Weihnachtsmann und es entfaltete sich jedes Jahr die gleiche große Geschäftigkeit. Als sie älter wurden, funktionierte das einfach über Daten, aber die Vorfreude, die der ganze Zauber, der meine Kinder und mich umgab, blieb.

Heute ist wieder so ein Morgenrot, nur bin ich allein in der Küche, meine Kinder sind schon erwachsen und ich backe für unsere Jungfamilien. Manchmal kommt meine Tochter und wir backen gemeinsam mit Freunden und mit meiner Enkeltochter. Dabei muß nach alter Familienüberlieferung der so begehrte Honigkuchenteig angesetzt werden und darf, bis er am nächsten Tag gebacken wird, seine Wohlgerüche verströmen.

In meiner Familie und in unserem Freundeskreis sind meine Weihnachtsgebäcke schon ein Muß. Ohne diese, worauf sich jeder freut, besonders aber die Kinder, die heute schon Jugendliche sind, geht nichts. Übrigens, Sarah, die Tochter meiner Freundin, wurde von einer amerikanischen Familie für ein Jahr als Austausch-Schülerin aufgenommen. In einem Telefongespräch mit ihr wurde auch das Rezept der Walnußplätzchen übermittelt. Auf diese Weise wird heute das Heimweh besiegt, denn Weihnachten im fremdem Land ist schon eine seltsame Sache. Plötzlich merken die ach so cool erscheinenden und so sich gebenden Jugendlichen, daß sie auch Gefühle zeigen, von denen sie beherrscht werden. Das berührt sie mehr, als sie sich eingestehen wollen.

Nach meinen Gedankenausflügen war ich nun wieder zu meinem rituellen Backen der vorweihnachtlichen Genüsse zurückgekehrt, da unterbrach mich das Telefon. Meine Freundin Marlis sagte ein Treffen ab, was ich natürlich bedauerte, aber den Grund dafür akzeptieren mußte. Ich hörte ihr geduldig zu. Während sie noch sprach, reifte eine Idee in mir. Ich gab ihr zur Antwort - bevor du nach Berlin zu deinen Bekannten fährst, mit denen auch ich bekanntgeworden bin, komm bitte zu mir und nimm ein paar Weihnachtskekse für sie mit, als herzlichen genußvollen Gruß von mir. Sie war sofort einverstanden. Nachdem alle Plätzchen in einer ganz stinknormalen Blechdose verpackt waren, mußte ich alles noch ein bißchen weihnachtlich verpacken. Schließlich war diese Liebesgabe für einen Schwerkranken bestimmt. Sie sollte doch alle Sinne erfreuen und ein wenig Mut machen. Aber was kann Mut schon gegen AIDS und den damit (bis jetzt) verbundenen Todesaussichten schon ausrichten. Er kann nur helfen, daß die Seele nicht vereinsamt und schon vor dem körperlichen Tod stirbt.
Meine Freundin hatte also einen nicht alltäglichen Besuch vor sich, der mich schon im Vorfeld des Geschehens bewegte. Alles war fertig, da rief sie wieder an: Ich möge morgen nicht auf sie warten, sie könne nicht fahren, der kranke Freund liegt wieder im Krankenhaus. Diese Situation im Krankenhaus ist so erschütternd für Außenstehende und noch mehr für die Betroffenen, daß sie erst später kommen solle.
Ihr Bekannter, der seinen kranken Freund schon seit einigen Monaten intensiv und aufopfernd pflegt, wollte ihr diese Erschütterung nicht antun.
Er kennt sich aus, lebt schon lange damit und weiß um die Ratlosigkeit und Hilflosigkeit Außenstehender, die jede schwere Krankheit auslöst und im Besonderen immer noch AIDS.

Also blieben die Büchse und die guten Wünsche noch eine Weile hier bei mir stehen und veranlaßten mich immer wieder über Liebe und Aufopferung, Leben und Tod nachzudenken. Fragen -- Wie und wann merkt ein Mensch es, wann er gehen muß, wie bereitet er seinen Abgang von den Freunden dieser Welt vor, wenn der Tod nicht spontan eintritt? Wann kann ein Mensch in solcher Phase der Ahnungen vom Leben oder einigen Lebensabschnitten loslassen? -- Immer wieder kreisten meine Gedanken um diesen erschütternden Einschnitt im Leben mit Freunden: Wann kann es mich treffen, wann werde ich einen liebgewordenen Menschen bis zum letzten Lebenszeichen begleiten? Wie werde ich mich dann verhalten? Werde ich es aushalten? Bleibt mir selbst soviel Zeit, mich vom Leben um mich herum zu verabschieden, ausgesöhnt mit mir selbst, mit dem Bewußtsein,
diesem Leben nichts schuldig geblieben zu sein. Plötzlich überfiel mich der Drang immer mehr, über mein bisheriges Leben nachzudenken immer mit der Frage: War es das wirklich schon, müßte da nicht noch was aufregendes passieren, was wird noch alles geschehen? Was will ich mit meinem Lebensrest noch tun? Wie werde ich ihn sinnvoll gestalten, denn der größte Teil meines Lebens ist schon gelebt.

Einige Tage später war das Päckchen endlich zu seinem Bestimmungsort unterwegs. Ich fühlte mich wie befreit und meine Betroffenheit klang etwas ab, aber nur bis zum Besuch meiner Freundin, die mir nun von ihrem Besuchserleben unbedingt berichten mußte, denn auch sie mußte ihre Erschütterung verarbeiten.
Wir saßen nun bei Tee und Kerzenlicht in der Küche. Ich erfuhr nun von den überaus starken Empfindungen, die meine Vorweihnachtsplätzchen bei dem todgeweihten Freund auslösten. Sie erzählte mir, wie sehr ihn die Gerüche an sein ehemaliges Zuhause erinnerten, denn er hatte ebenfalls eine solche tolle Großmutter, die er schon längst verloren hatte und damit auch die familiäre Geborgenheit. Er meinte, in ganz Berlin wären solche Plätzchen nicht aufzutreiben. Diese exotischen Düfte und Gaumenfreuden nebst Kindheitserinnerungen könnten nur wirkliche Freunde für ihn backen. Seit Wochen konnte er nur mit größten Anstrengungen Speisen zu sich nehmen und auch bei sich behalten. Doch diese duftenden Plätzchen waren einfach mit soviel wohligen Empfindungen verspeist worden, daß sie ihm bekamen. Als ich das hörte, dachte in diesem Augenblick an meine Kindheitserlebnisse, die mich mit meiner Großmutter verbanden und deren Güte, Fürsorge, Nachsicht und Verständnis ich nie vergessen werde, weil sie mich geprägt und mir zu meiner jetzigen Lebensauffassung verholfen hat, konnte ich die Bewegtheit des Freundes sehr gut nachempfinden. Die Adventstimmung in der Stube, die ihm sein jüdischer Freund, trotz seines anderen Glaubens und anderer Ritualen hingezaubert hat, tat sein übriges dazu. Es war ein kleines Stückchen Abschied, da er von seiner Kindheit erzählen konnte und noch einmal alle Begeisterungen dieser einst so unbeschwerten Zeit nacherlebte. Er konnte auf seinem Weg ein Stückchen loslassen und war glücklich über diese Erleichterung, die es ihm ermöglichte, über vieles zu sprechen, was bis dahin noch erwähnt geblieben war. Es war seine Art, sich von seinem Freund zu verabschieden. Beide Männer, so erfuhr ich, empfanden am Ende ihrer großen Liebe noch einen gewaltigen Höhepunkt. Die Erinnerung an ihre gemeinsam verbrachte Zeit bekam eine noch wertvollere Bedeutung für den Zurückgelassenen.

Wenige Zeit danach stellte ich meiner Freundin und mir einen wunderschönen Lilienstengel mit drei weiß- und cyclamfarben gestrahlten Blüten in einer blauen Vase auf unseren Tisch, steckten uns ein Licht an, und wir dachten an all das, was uns grade geschehen war, spürten den Verlust und wehrten uns nicht unserer trauernden Gedanken.
Nach langem Schweigen stellten wir fest, daß sich nach tiefer Betroffenheit doch ein leichtes Glücksgefühl breitmachte. Wir waren froh darüber, unseren Freunden zu diesem großen letzten Erlebnis verholfen zu haben.

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